Samstag, 9. Mai 2009
(Sächsische Zeitung)
Bewegender Aufschrei im Scherbenmeer
Mit der Inszenierung „Flaschendrehen“ gibt Jan Baake am Theater Zittau den Schwachen eine Stimme. Anlass war ein Mordfall in der Stadt.
Von Jana Ulbrich
Lebensläufe im Staccato. Immer schneller prasseln die Worte auf die Zuschauer nieder: Mann, 51, alkoholabhängig, arbeitslos; Frau, 47, ein Selbstmordversuch, arbeitslos; junger Mann 21, arbeitslos; junge Frau, 20, ein Kind, arbeitslos.
Arbeitslos. Immer wieder arbeitslos. Dazu die Stimme eines Zittauer Notarztes aus dem Off: Crystal verursacht Nierenschäden, greift das Gehirn an. Die Stimme der Fallmanagerin der Hartz IV-Behörde: Manchmal können wir einfach nur noch verwahren und verwalten. Die Stimme des Polizeioberrats aus dem Zittauer Revier: Manche von denen, die kennt man ja schon...
Und immer weiter lesen die vier Schauspieler auf der Bühne aus Gesprächsprotokollen mit Menschen aus Zittau und Umgebung. Es sind sozial Schwache, Ausgegrenzte, Menschen „zweiter Klasse“, die im Zittauer Theaterfoyer eine Stimme bekommen. Es sind gebrochene Lebensläufe und gebrochene Leben, die sich da in schonungsloser Offenheit vor den Zuschauern auftun, so drastisch und direkt, dass es wehtut, so berührend ehrlich, dass man den Kloß im Hals kaum noch schlucken kann.
Töten für fünf Euro?
Mit der inszenierten Lesung „Flaschendrehen“ ist dem Zittauer Theater ein außergewöhnliches und zutiefst beeindruckendes Projekt gelungen. Auslöser für die zusätzlich in den Spielplan aufgenommene Inszenierung war ein aktuelles Ereignis, das Ende vorigen Jahres die ganze Stadt bewegte: An einem kalten Novemberabend hatte ein 15-Jähriger auf einem Spielplatz einen 48-jährigen Mann aus dem Alkoholikermilieu getötet – mit den Scherben eines abgebrochenen Flaschenhalses, angeblich wegen fünf Euro Schulden. Wie kann so etwas geschehen? Wie kann ein Mensch so weit kommen? Wie überhaupt kann man leben, wenn das Leben nur noch ein Scherbenhaufen ist?
Ohne auf den konkreten Anlass, der noch ein schwebendes Verfahren ist, einzugehen, ging Autor und Regisseur Jan Baake diesen Fragen nach. Er sprach mit Alkoholkranken und Drogenabhängigen, mit am Leben Gescheiterten und von der Gesellschaft Verachteten. Da ist der anerkannte Ingenieur aus den Roburwerken, der nach der Wende seine Arbeit und den Lebensinhalt verliert. Da ist der Jugendliche, der schon mit 14 nichts anderes vorhatte als Saufen und „auf die Fresse hauen“, da ist die Drogenabhängige, die ein Kind erwartet. Zu den dutzenden Gesprächsprotokollen kommen Videoaufnahmen in Schwarz-Weiß: Die Kamera lässt die Menschen nicht aus den Augen, fährt so nah ran, dass es beinahe schon schmerzt.
Dieses Zittau ist überall
Sie begleitet die Menschen in ihr Lebensumfeld, in Zittauer Straßen, in die Kneipe, in die Behindertenwerkstatt oder auf die Bank unter der großen Eiche mit weitem Blick in eine herrliche Landschaft.
Dieses Zittau ist überall. Weil es diese prekären Lebensumstände und Lebensbrüche überall gibt. „Flaschendrehen“ hat den vielen anonymen Schwachen, ohne sie vorzuführen, eine respektvolle Stimme gegeben. Eine anfangs noch schüchterne und unsichere, im Laufe der Gespräche aber immer fester werdende, den Umständen trotzende und stolze Stimme. Eine Stimme, die am Ende, wenn eine der jungen Protagonistinnen klar und schön das Oberlausitzlied singt, zu einem bewegenden Aufschrei wird.
„Flaschendrehen“ steht vorerst nur noch zweimal auf dem Zittauer Spielplan,
und zwar am 21. Mai und am 10. Juni, jeweils 20.30Uhr im Foyer.
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