Der Mann und das Mädchen
Am Theater Zwickau hat "Lolita" frei nach Vladimir Nabokov Premiere - da wird ein knallhartes Drama subtil inszeniert.
Von VOLKER MÜLLER
Manchmal ist es nicht weit zum Abgrund. In dem Schauspiel, das Freitagabend in Zwickau auf der Bühne des Puppentheaters Premiere hatte, braucht es nur knapp zwei Stunden, bis ein smarter, locker über seine sexuellen Vorlieben plaudernder Feingeist zu einem menschlichem Wrack allererster Güte herabsinkt.
Dass die Schuldfrage weitgehend im Dunkeln bleibt, ist kein Versäumnis der Inszenierung, sondern hängt mit der Vorlage zusammen. Gezeigt wird "Lolita" nach dem Drehbuch des Russen Vladimir Nabokov, der 1955 auch einen gleichnamigen Roman schrieb.
Nabokov machte die erotische Ausstrahlung von Mädchen zum Thema, die gerade dem Kindesalter entwachsen sind. Und er beschreibt nicht weniger scharfsichtig die andere, männliche Seite der Medaille, die es gibt und die - wenn nicht zweifelsfrei als Krankheit anzusehen ist- doch ausgeprägt krankhafte, selbstzerstörerische Züge tragen kann. Gastregisseur Jan Baake inszeniert den Stoff am Theater Plauen- Zwickau ohne jede Effekthascherei.
Und er überschreitet auch nicht das, was man die Grenzen des guten Geschmacks nennt. Umso mehr Wert legt Baake auf die dramatische Entwicklung. Der Beginn in der Pension von Charlotte Haze, als der eine Unterkunft suchende Literaturwissenschaftler Humbert Humbert schon wieder von dannen ziehen will, als er in letzter Sekunde über deren zwölfjährige Tochter Lolita "stolpert" - das und die sich nun ergebende knisternde Dreier-Beziehung muten an wie süffisantes Boulevard-Theater. Doch danach wandelt sich das Geschehen allmählich zum knallharten Drama.
Kleines Kunststück
Das gibt den Zuschauern eine Reihe Fragen mit auf den Weg. Ist die 18-jährige Lolita, die als werdende Mutter Humbert Humbert noch einmal trifft, wirklich aus dieser Geschichte "raus"? Ist ihr Verführer und Peiniger, der ohne sie nicht existieren kann, nicht gleichzeitig auch ein bemitleidenswertes Opfer? Wie ist die Position des sich moralisch entrüstenden Umfelds zu bewerten?
Mit der tiefgründigen, redlichen Regiekonzeption gehen überragende Leistungen der Darsteller Hand in Hand. Angelina Häntsch stellt eine Lolita hin, die vor Kindlichkeit und Liebreiz sprüht, aber auch schon die ersten Anfänge weiblicher Berechnung erkennen lässt. Und immer bleibt bei ihr - auch später als Schwangere - ein Rest Rätsel, Zauber, Unheimliches, womit sie letztlich an Nabokovs legendäre Romanfigur heranreicht. Frank Siebers als Humbert Humbert gelingt das Kunststück, den Zerfall einer Persönlichkeit nahezu ausschließlich mit subtilen, weder Lautstärke noch Exzessives brauchenden schauspielerischen Mitteln zu gestalten.
Großer Beifall
Damit übertrifft er alles bisher in Plauen und Zwickau Gezeigte noch. In dieser Verfassung kann Siebers alles spielen. Und wie Ute Menzel die spießig-lüsterne Mutter Haze ins Szene setzt, das macht ihr so schnell auch niemand nach. Johannes Moss in wechselnden Rollen sowie Dieter Maas und Michael Schramm, die sich Humbert Humberts Gegenspieler Quilty "teilen", können sich gleichfalls sehen lassen.
Das sparsame Bühnenbild und die teils dezent, teils kräftig charakterisierenden Kostüme entwarf Franziska Weiske. Nach der Premiere gab es großen Beifall.
Freie Presse, 15.11. 2010
Service Nächste Vorstellung in Zwickau: am 30. Dezember, 20 Uhr. Karten unter 0375/274114647/48. Premiere in Plauen am 16. November, 20 Uhr. Karten unter: 03741/28134847/48.
www.theater-plauen-zwickau.de