Montag, 6. Dezember 2010

Lolita

Der Mann und das Mädchen
Am Theater Zwickau hat "Lolita" frei nach Vladimir Nabokov Premiere - da wird ein knallhartes Drama subtil inszeniert.

Von VOLKER MÜLLER

Manchmal ist es nicht weit zum Abgrund. In dem Schauspiel, das Freitagabend in Zwickau auf der Bühne des Puppentheaters Premiere hatte, braucht es nur knapp zwei Stunden, bis ein smarter, locker über seine sexuellen Vorlieben plaudernder Feingeist zu einem menschlichem Wrack allererster Güte herabsinkt.
Dass die Schuldfrage weitgehend im Dunkeln bleibt, ist kein Versäumnis der Inszenierung, sondern hängt mit der Vorlage zusammen. Gezeigt wird "Lolita" nach dem Drehbuch des Russen Vladimir Nabokov, der 1955 auch einen gleichnamigen Roman schrieb.
Nabokov machte die erotische Ausstrahlung von Mädchen zum Thema, die gerade dem Kindesalter entwachsen sind. Und er beschreibt nicht weniger scharfsichtig die andere, männliche Seite der Medaille, die es gibt und die - wenn nicht zweifelsfrei als Krankheit anzusehen ist- doch ausgeprägt krankhafte, selbstzerstörerische Züge tragen kann. Gastregisseur Jan Baake inszeniert den Stoff am Theater Plauen- Zwickau ohne jede Effekthascherei.
Und er überschreitet auch nicht das, was man die Grenzen des guten Geschmacks nennt. Umso mehr Wert legt Baake auf die dramatische Entwicklung. Der Beginn in der Pension von Charlotte Haze, als der eine Unterkunft suchende Literaturwissenschaftler Humbert Humbert schon wieder von dannen ziehen will, als er in letzter Sekunde über deren zwölfjährige Tochter Lolita "stolpert" - das und die sich nun ergebende knisternde Dreier-Beziehung muten an wie süffisantes Boulevard-Theater. Doch danach wandelt sich das Geschehen allmählich zum knallharten Drama.

Kleines Kunststück

Das gibt den Zuschauern eine Reihe Fragen mit auf den Weg. Ist die 18-jährige Lolita, die als werdende Mutter Humbert Humbert noch einmal trifft, wirklich aus dieser Geschichte "raus"? Ist ihr Verführer und Peiniger, der ohne sie nicht existieren kann, nicht gleichzeitig auch ein bemitleidenswertes Opfer? Wie ist die Position des sich moralisch entrüstenden Umfelds zu bewerten?
Mit der tiefgründigen, redlichen Regiekonzeption gehen überragende Leistungen der Darsteller Hand in Hand. Angelina Häntsch stellt eine Lolita hin, die vor Kindlichkeit und Liebreiz sprüht, aber auch schon die ersten Anfänge weiblicher Berechnung erkennen lässt. Und immer bleibt bei ihr - auch später als Schwangere - ein Rest Rätsel, Zauber, Unheimliches, womit sie letztlich an Nabokovs legendäre Romanfigur heranreicht. Frank Siebers als Humbert Humbert gelingt das Kunststück, den Zerfall einer Persönlichkeit nahezu ausschließlich mit subtilen, weder Lautstärke noch Exzessives brauchenden schauspielerischen Mitteln zu gestalten.

Großer Beifall

Damit übertrifft er alles bisher in Plauen und Zwickau Gezeigte noch. In dieser Verfassung kann Siebers alles spielen. Und wie Ute Menzel die spießig-lüsterne Mutter Haze ins Szene setzt, das macht ihr so schnell auch niemand nach. Johannes Moss in wechselnden Rollen sowie Dieter Maas und Michael Schramm, die sich Humbert Humberts Gegenspieler Quilty "teilen", können sich gleichfalls sehen lassen.
Das sparsame Bühnenbild und die teils dezent, teils kräftig charakterisierenden Kostüme entwarf Franziska Weiske. Nach der Premiere gab es großen Beifall.

Freie Presse, 15.11. 2010
Service Nächste Vorstellung in Zwickau: am 30. Dezember, 20 Uhr. Karten unter 0375/274114647/48. Premiere in Plauen am 16. November, 20 Uhr. Karten unter: 03741/28134847/48.
www.theater-plauen-zwickau.de


Sonntag, 5. Dezember 2010

Der Sandkasten




Clash im Sandkasten
Vielfalt beim Sächsischen Theatertreffen in Chemnitz
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Freilich, bei einem Stück wie „Sandkasten" (Theater Plauen-Zwickau; Regie: Jan Baake) fühlen die sich besser aufgehoben. Geschlechter-Clash im Sandkasten. Er und Sie zwischen harmlosem Kinderspiel und pubertären Allmachtphantasien, Anziehen und Abstoßen, Gewalt und Zärtlichkeit. Alles spartanisch und effizient auf den Punkt inszeniert, auch wenn ab und an die allzu übliche Unart waltet, steigende Emotionen über steigende Lautstärke zu kommunizieren ... Entschädigt wird man aber reichhaltig- etwa, wenn nach einem Gerangel Er vorsichtig und sanft Ihren verletzten Fuß in die Hände nimmt. Ganz still, ganz zart wird es da. Und als auch noch Nick Caves „Sweetheart come" ertönt, möchte man glatt wehmütig aufschluchzen.
...
Steffen Georgi, LVZ, 20.04.2010





Samstag, 4. Dezember 2010

Flaschendrehen

Samstag, 9. Mai 2009
 (Sächsische Zeitung)

Bewegender Aufschrei im Scherbenmeer
Mit der Inszenierung „Flaschendrehen“ gibt Jan Baake am Theater Zittau den Schwachen eine Stimme. Anlass war ein Mordfall in der Stadt.
Von Jana Ulbrich

Lebensläufe im Staccato. Immer schneller prasseln die Worte auf die Zuschauer nieder: Mann, 51, alkoholabhängig, arbeitslos; Frau, 47, ein Selbstmordversuch, arbeitslos; junger Mann 21, arbeitslos; junge Frau, 20, ein Kind, arbeitslos.

Arbeitslos. Immer wieder arbeitslos. Dazu die Stimme eines Zittauer Notarztes aus dem Off: Crystal verursacht Nierenschäden, greift das Gehirn an. Die Stimme der Fallmanagerin der Hartz IV-Behörde: Manchmal können wir einfach nur noch verwahren und verwalten. Die Stimme des Polizeioberrats aus dem Zittauer Revier: Manche von denen, die kennt man ja schon...

Und immer weiter lesen die vier Schauspieler auf der Bühne aus Gesprächsprotokollen mit Menschen aus Zittau und Umgebung. Es sind sozial Schwache, Ausgegrenzte, Menschen „zweiter Klasse“, die im Zittauer Theaterfoyer eine Stimme bekommen. Es sind gebrochene Lebensläufe und gebrochene Leben, die sich da in schonungsloser Offenheit vor den Zuschauern auftun, so drastisch und direkt, dass es wehtut, so berührend ehrlich, dass man den Kloß im Hals kaum noch schlucken kann.

Töten für fünf Euro?

Mit der inszenierten Lesung „Flaschendrehen“ ist dem Zittauer Theater ein außergewöhnliches und zutiefst beeindruckendes Projekt gelungen. Auslöser für die zusätzlich in den Spielplan aufgenommene Inszenierung war ein aktuelles Ereignis, das Ende vorigen Jahres die ganze Stadt bewegte: An einem kalten Novemberabend hatte ein 15-Jähriger auf einem Spielplatz einen 48-jährigen Mann aus dem Alkoholikermilieu getötet – mit den Scherben eines abgebrochenen Flaschenhalses, angeblich wegen fünf Euro Schulden. Wie kann so etwas geschehen? Wie kann ein Mensch so weit kommen? Wie überhaupt kann man leben, wenn das Leben nur noch ein Scherbenhaufen ist?

Ohne auf den konkreten Anlass, der noch ein schwebendes Verfahren ist, einzugehen, ging Autor und Regisseur Jan Baake diesen Fragen nach. Er sprach mit Alkoholkranken und Drogenabhängigen, mit am Leben Gescheiterten und von der Gesellschaft Verachteten. Da ist der anerkannte Ingenieur aus den Roburwerken, der nach der Wende seine Arbeit und den Lebensinhalt verliert. Da ist der Jugendliche, der schon mit 14 nichts anderes vorhatte als Saufen und „auf die Fresse hauen“, da ist die Drogenabhängige, die ein Kind erwartet. Zu den dutzenden Gesprächsprotokollen kommen Videoaufnahmen in Schwarz-Weiß: Die Kamera lässt die Menschen nicht aus den Augen, fährt so nah ran, dass es beinahe schon schmerzt.

Dieses Zittau ist überall

Sie begleitet die Menschen in ihr Lebensumfeld, in Zittauer Straßen, in die Kneipe, in die Behindertenwerkstatt oder auf die Bank unter der großen Eiche mit weitem Blick in eine herrliche Landschaft.

Dieses Zittau ist überall. Weil es diese prekären Lebensumstände und Lebensbrüche überall gibt. „Flaschendrehen“ hat den vielen anonymen Schwachen, ohne sie vorzuführen, eine respektvolle Stimme gegeben. Eine anfangs noch schüchterne und unsichere, im Laufe der Gespräche aber immer fester werdende, den Umständen trotzende und stolze Stimme. Eine Stimme, die am Ende, wenn eine der jungen Protagonistinnen klar und schön das Oberlausitzlied singt, zu einem bewegenden Aufschrei wird.

„Flaschendrehen“ steht vorerst nur noch zweimal auf dem Zittauer Spielplan,
und zwar am 21. Mai und am 10. Juni, jeweils 20.30Uhr im Foyer.



Freitag, 3. Dezember 2010

Der Sohn

LVZ, 2. Mai 2006

Suchender Bubi
Studiobühne inszeniert Hasenclevers “Der Sohn”

Es ist diese zaghafte Berührung, die nicht in den klobigen Konflikt passen will. Die allseits besorgte Gouvernante (Kerstin Lange) zuckt zusammen, erschrickt vor der Wärme des Sohnes. Sein Vater senkt den Kopf, schaut nicht zu. Der Vater (hervorragend: Dietmar Voigt), ein adrett gekleideter Mann, der zu grauem Anzug Hut und Fliege trägt, ist dem Wilhelminismus verpflichtet, seinen Sohn (Rüdiger Hauffe) will er schuften sehen. Der aber hat die Examensprüfung vergeigt und nun soll er eine Frau lieben? Eine Schande, eine Schmach. Vater versus Sohn - das ist ein Konflikt, der spätestens seit Freuds Ödipus aufgegriffen und aufgeführt wird. Am Samstag hatte im Lofft Hasenclevers “Der Sohn” Premiere, eine Inszenierung von Studiobühne und Vorbeitreibende Opfer.
In dem expressionistischen Stück bleiben dem schwachen Sprössling nur Schweiß, Tränen und der Drang auszubrechen, sich auszutoben. Der Freund (eindrucksvoll: Marco Runge), ein langhaariger Hippie, verführt zur Rebellion: Der Sohn flieht aus der Wirklichkeit, wandelt sich vom Bubi zum selbstbewussten, freien Mann, der die Wirklichkeit bejaht. Er stürmt nach draußen, wo Madame ihn entjungfert und Frau zum Symbol der Selbstbestimmung wird.
Hasenclevers “Der Sohn” sorgte bei der Uraufführung 1916 in Prag für reichlich Furore, denn das Stück ruft die junge Generation zur radikalen Veränderung auf. Auch 90 Jahre später, wirkt das authentisch, vielleicht gerade weil nicht der Versuch gemacht wird, den Generationenkonflikt neu und modern aufzubereiten. Die Reclamheftchen, die der Sohn zum Trotz um sich schmeißt, sind alt und zerfleddert, nicht aber die Figuren und auch nicht die Emotionen, wenn der Sohn rebelliert und, zum Vatermord angestiftet, den Revolver zückt. Doch die Bewegung rattert, stoppt, will, aber darf nicht weiter, denn der Vater schaut nicht mehr zu, hält den Kopf bereits gesenkt. Das Drama endet tödlich, auch ohne den finalen Schuss. Klobig? Klotzig? Vielleicht kalt, aber aufgelöst.

Sonja Hartwig




Donnerstag, 2. Dezember 2010

Der Drache

Drache kehrt heim ins Kinderzimmer

ThaliaTheater spielt Jewgeni Schwarz' Kultstück "Der Drache" mal für die Jüngsten - Es funktioniert trotzdem

Von  DETLEF FÄRBER

Halle/MZ.
Eigentlich weiß man ja als Drache, wo man hingehört: Ins Kinderzimmer nämlich, in die Phantasie der Jüngsten und damit im Theater natürlich auch auf die Märchenbühne. Ganz anders war das einst in einem Märchenland namens DDR, wo erwachsene Menschen einander ununterbrochen Märchen erzählten, die nicht wenige für Realitäten hielten.
...
In den Jahren nach der Wende hatte der Drache im Theater logischerweise meist Pause. Und so ist das, was es gestern im halleschen Thalia Premiere hatte, so etwas wie die Heimkehr des Drachen ins Kinderzimmer. In einer gleichermaßen witzigen wie poetischen Stückfassung und Inszenierung (Jan Baake) konnten Axel Gärtner als opportunistischer Bürgermeister, Enrico Petters als charmanter Drache und Berndt Stichler als bürgerrechtsbewegter Drachentöter ihrem jeweiligen komödiantischen Affen kräftig Zucker geben.

Die Story - auf zwei Dreiecksgeschichten mit einer nur als Puppe präsenten Jungfrau verknappt - ist ein reizvolles Duell im Thalia:
Enrico Petters als"Drache" und Berndt Stichler als Drachentöter Lanzelot. Voller schöner Bilder für das an sich so Unschöne, nämlich die Unterjochung eines Gemeinwesens.
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Interessant ist, wie der Drachentöter den Umsturz bewerkstelligt. Bevor er sein Schwert zückt, macht er sich per Tarnkappe vorsichtshalber unsichtbar. Das erinnert ans eingangs zitierte Märchenland. Auch da waren die Umstürzler fast immer unsichtbar. Und auch da war der Drache dann mal ganz plötzlich tot.



Mittwoch, 1. Dezember 2010